Illustration: Claudia Löffelmann
Es liegt in unserer Natur, dass wir Erlebtes bewerten und in Kategorien einordnen. An sich nichts Schlechtes. Schließlich helfen uns unsere Erfahrungen, aktuelle Situationen z.B. als gefährlich oder sicher zu be-URTEIL-en oder als sinnvoll bzw. nicht sinnvoll. So entstehen unsere Vorurteile, die wir abrufbereit mit uns tragen und hervor holen, wenn wir neuen, ungewohnten Situationen begegnen.
Vorurteile können im Weg stehen
Ab und an stehen uns unsere Vorurteile jedoch im Weg. Und hin und wieder packen wir Menschen in Schubladen, in die sie gar nicht gehören.
Der hat nicht mehr alle Tassen im Schrank!
Anka bringt ihre Tochter Nici jeden Morgen um halb acht in den Kindergarten. Genau wie der Student Hannes seinen Sohn Max. Seit einiger Zeit kommt Hannes in seltsamer Verkleidung. Mal trägt er ein Hundekostüm, mal schaut er aus wie der Zauberer von Oz. Neulich war er geschminkt und gekleidet wie ein Zombie. Dabei ist weder Faschingssaison noch Halloween. Jedes Mal verabschiedet sich Hannes von seinem Sohn genauso, wie es der momentanen Verkleidung entspricht. Sich hinter dem Ohr kratzend mit einem lauten „Wuff“ oder „Abrakadabra – bald ist Papi wieder da.“ Oder nur mit einem gurgelnden Zombie-Laut. Für Anka wirkt dieser Typ befremdlich. Bilder entstehen in ihrem Kopf. ‚Typisch Student – noch nicht erwachsen aber Hauptsache schon ein Kind gemacht.‘ oder ‚… Was für ein Chaot. So wird er seine Familie nie ernähren können.‘
Eines Tages eröffnet Nici ihrer Mutter, dass sie zu Max zum Kindergeburtstag eingeladen ist. „Waaaas? Bei Max mit DEM Vater? Auf keinen Fall!“ Bilder einer wilden Party mit chaotischen Zuständen schwirren ihr durch den Kopf. Sie fürchtet um das Wohl ihrer Tochter weil sie Max‘ Vater als verantwortungslosen, in Phantasiewelten lebenden Menschen hält. Enttäuscht erklärt Nici ihrem Kindergartenkumpel Max, dass sie nicht kommen darf.
Der ist ja ganz anders als ich dachte…
Eines Abends klingelt es an der Tür. Als Anka öffnet, sieht sie einem freundlich drein schauenden jungen Mann in die Augen. Er hätte vom Auftreten und Kleidungsstil her ihr persönlicher Versicherungsberater sein können. Offen lächelnd fragt sie ihn: „Was kann ich denn für Sie tun?“ Etwas verwirrt entgegnet der fremde Mann „Hallo Anka. Ich bin doch Hannes, der Vater von Max…“ Ungläubig schaut Anka ihn an. „Wie ist das denn möglich?“ Nach kurzem Austausch und erstauntem Erwachen sitzen die beiden an Ankas Küchentisch. Noch immer leicht verwirrt gibt sie ihre Zweifel offen zu. „Ich sehe Dich immer nur in albernen Kostümen. Daraus schließe ich, dass bei Euch nur eine bunte Zirkuswelt zu Hause herrscht und ich kann mir nicht vorstellen dass Du angemessen handeln kannst, wenn es mal ernste Situationen zu bewältigen gibt.“
„Weil ich aufgrund meiner Berufskleidung durchs Raster Deiner Normalität falle, bin ich ein durchgeknallter Idiot? Das ist interessant…Die meisten Eltern, die ihre Kinder morgens in die KiTa bringen, sind auf dem Weg in die Arbeit und tragen schon die Arbeitskleidung, die dazu sinnvoll ist. “ Als Anka das Wort Arbeitskleidung vernimmt, wird sie neugierig. „Was genau arbeitest Du?“
Mit Anlauf in den Fettnapf
„Ich verdiene mir nebenbei Geld und arbeite bei einer Kinderfilmproduktion als Statist. Die frühen Arbeitszeiten passen genau zu meinem Vorlesungsplan. Und wenn ich morgens schon ins Kostüm schlüpfe, ist das entspannter für Max und mich, weil ich nicht noch früher am Set sein muss. Und klar, Max ist noch in einem Alter, da findet er es lustig, wie ich mich verkleide.“
Ein neues Bild entsteht in Ankas Kopf: wie sie mit einem affenartigen Tempo mitten rein in den Fettnapf springt. Mit beiden Füßen.
Dass Nici schließlich doch zu Max zur Kindergeburtstagsparty darf, brauche ich wohl nicht mehr erwähnen, oder? Die Party steht unter dem Motto: Märchenland. Es springen viele kleine Prinzessinnen, Ritter, Zauberer und Zwerge herum. Ein großer Hund ist auch dabei…
Na? Wen haben Sie schon einmal falsch eingeschätzt? Viel Spaß bei Ihren künftigen Begegnungen mit interessanten Menschen!
Ihre Petra Carlile