Illustration: Claudia Löffelmann
Auch ich kategorisiere und schätze Situationen, vor allem jedoch fremde Menschen ein, ohne sie zu kennen. Manchmal liege ich richtig. Manchmal aber auch völlig falsch. Nicht immer ist Schubladendenken hilfreich. Das sind meine Schubladen:
Fahr zu – zefix!
Einmal hatte ich es richtig eilig. Und – na klar – genau dann schlich vor mir ein Pkw die Landstraße mit leichter Steigung entlang. Überholen war nicht möglich. Meine Gedanken? Da sind sie: ‚Sonntagsfahrer!‘, ‚Fahr mit dem Bus, wenn Du Angst beim Autofahren hast!‘, ‚Ich wette, es ist eine Frau‘. Der Witz der Unlogik dabei: ich bin selbst eine. Aber macht ja nichts. Hauptsache innerlich gemeckert. Und ich bin mitten drin im Schubladendenken….
Bis mir eine Freundin der Familie einmal erzählte, dass sie als Außendienstlerin ein Auto erhielt, das mit Gas betankt wird. Und sie jedes Mal ins Schwitzen geriet, wenn sie damit in bergige Gegenden fahren musste. Weil die Kiste keine Leistung unter der Motorhaube hatte, ging nie mehr als 60 km/h an kleinen und mittleren Steigungen. Sie beschrieb mir, welche Ängste sie ausstand, wenn der Lkw hinter ihr so dicht auffuhr, dass sie nicht mal sein Nummernschild im Rückspiegel sah. Und wie unangenehm es ihr wahr, wenn die Fahrzeugkolonne hinter ihr das Hupkonzert lostrat.
Seit dieser Unterhaltung verurteile ich einen langsamer fahrenden nicht mehr. Ich denke dann stets: ‚mei, vielleicht fährt der arme Mensch ein Gasauto mit wenig PS und kann einfach nicht schneller. Obwohl er möchte.‘ Zugegeben: auch nur eine Interpretation, die nicht auf Wissen basiert. Doch hilft sie meinem Blutdruck ungemein. Selbst wenn vor mir ein 3er BMW schleicht….
Introvertierte Bücherwürmin = Bibliothekarin?
Es ist schon viele Jahre her, da sah ich oft eine schüchterne Frau an der Bushaltestelle, die lieber in einem Buch las statt aufzuschauen oder auch nur mit den Augen Kontakt zu den Umstehenden zu suchen. Überall, wo sie mir begegnete, sah ich sie lesend. Sitzend in der U-Bahn. Wartend auf den Bus. Und meine Interpretation? Von Beruf Bibliothekarin. Mein Schubladendenken hatte voll zugeschlagen. Nach sehr langer Zeit kamen wir durch Zufall doch einmal ins Gespräch. Und es stellte sich heraus, dass sie von Beruf Werbefilmerin war. Ich gestand ihr meine ungefragten Gedanken zu ihrem möglichen Beruf. Und habe sie zum Lachen gebracht.
Viele Tätowierungen = kleingeistiger Knastbruder?
Mit Freunden waren wir in einem Restaurant essen. Es hieß „Last Supper“. Einladende, gemütliche Einrichtung, eingedeckte Tische, gehobene Preisklasse auf dem Menü, das ich mir vorher im Internet anschaute. Aufgebrezelt in Kleid und Pumps, unsere Männer in schicken Anzügen, betraten wir das Restaurant. Ein kahl rasierter, kurzärmelig und in Jeans gekleideter junger Mann kam auf uns zu. Beide Arme waren tätowiert. Die Kunstwerke traten sogar noch aus dem Shirt-Kragen und verliefen irgendwo über dem Hals. Meine ersten Gedanken: ‚Jemand auf Bewährung. Vielleicht gibt man ihm hier eine zweite Chance.‘ Ich hielt den Atem an, weil ich eine schnodderige Anblaffe erwartet habe. Stattdessen: „Herzlich Willkommen im Last Supper! Haben Sie reserviert? Ich begleite Sie zu Ihrem Tisch.“ Völlig verdattert ließ ich meine Umgebung, die Kellner inbegriffen, auf mich wirken. „Darf ich Ihnen zu Ihrem Menü einen Wein empfehlen?“ Fragte ein Kellner-Kollege. Ebenfalls in T-Shirt und auf freien Stellen dauerhaft kunstvoll verziert. Mein menschliches inneres „Ich“ ging mit meinem vorurteilsüberladenen inneren „Ich“ in Diskussion. ‚Es können nicht alle 5 Kellner auf einmal auf Bewährung sein. Mach die Augen zu und höre mal, was sie Dir sagen. Und wie sie es Dir sagen.‘, menschelte es in mir. ‚… aber sie schauen aus wie Knastbrüder. Und was die an haben. Das gehört sich doch nicht in so einem Restaurant!‘ Meckerte die Vorurteils – Petra in mir. ‚Jetzt sei halt nicht so altmodisch! Sei froh, dass es nicht so steif und förmlich hier zugeht. Das würde Dir auch nicht gefallen.‘, forderte die Menschel-Petra. Und dann kam das Essen. Es war ein Gedicht. Und der Wein passte wie extra dafür gezüchtet. Und die Musik war jenseits von einschläfernder Klimperei sondern rockig und stimmungsbringend. Wir kamen mit den Kellnern ins Gespräch. So erfuhren wir von ihrem KnowHow für die Gastronomie, für Gastlichkeit und Gemütlichkeit. Wir lehnten uns zurück und genossen in vollen Zügen. Und die Vorurteils-Petra? Hat sich an diesem Abend schnell verzupft. Als wir einige Zeit später wieder ins Last Supper wollten, erfuhren wir, dass es geschlossen hatte. Es gab Krach mit einem neuen Nachbarn. Ob der auch voller Vorurteile war so wie ich beim ersten Mal? Ich hoffe, die Jungs haben eine tolle neue Bleibe in vorurteilsfreier Umgebung gefunden und wünsche ihnen alles, alles Gute!
Nicht gleich beurteilen sondern nur Fakten aufzählen
Das sofortige Bewerten, wenn es noch gar nicht nötig ist, möchte ich gern einschränken. Weil ich weiß, dass mir dadurch tolle Begegnungen mit wunderbaren Menschen durch die Lappen gehen. Und so versuche ich, mir bewusst nur Tatsachen aufzurufen, die ich wirklich sehe. Ohne zu bewerten. Und wenn ich schon interpretiere, versuche ich es positiv.
Statt: ‚So jung und schon so lahmarschig. Dem kann ich ja im Laufen die Schuhe besohlen!‘
Besser: ‚Ein Mann. VomAussehen her jünger als ich. Er geht langsamer als ich. Sicherlich hat er einen Grund dafür, den ich nicht kenne.‘
Statt: ‚Was für ein unfreundlicher Mensch.‘
Besser: ‚Manchmal habe auch ich einen schlechten Tag. Den gestehe ich auch anderen zu.‘
Statt: ‚Ein Penner‘
Besser: ‚Ein Mann. Größer als ich. Alter kann ich nicht schätzen. Gesicht ist mit Schmutz bedeckt. Ebenso die Kleidung und die Schuhe. Es gibt viele mögliche Gründe, warum das so ist.‘
Na? Welche Vorurteile haben Sie schon daran gehindert, wirklich wunderbare Menschen kennenzulernen?
Viel Spaß beim sachlichen Aufzählen von Tatsachen statt ständiger Bewertung!
Ihre Petra Carlile