Und gerade deshalb ist z.B. der Beruf der Arzthelferin (heute: Medizinische Fachangestellte) sehr anspruchsvoll. Die Patienten, die zu ihnen kommen, haben zu 99% ein gesundheitliches Problem, oftmals verbunden mit Schmerzen und Ängsten. Für mich sind Arzthelferinnen in Wirklichkeit Patientenhelferinnen. Klar, sie assistieren dem Arzt / der Ärztin, erledigen alle organisatorischen und abrechnungstechnischen Aufgaben und sorgen dafür, dass es läuft. Und zusätzlich zu alledem sind sie der erste Anlaufpunkt, der erste Ansprechpartner für jeden Patienten, der in die Praxis kommt oder anruft. Es ist nicht einfach, jedem Patienten die volle Aufmerksamkeit zu schenken, wenn eine Vielzahl anderer Aufgaben warten, man nebenbei ans Telefon gehen muss und den Tagesablauf koordiniert. Je nach Fachrichtung der Praxis, Anzahl der Ärzte und Ort, in dem sich die Praxis befindet, kommen täglich zwischen 80 und 100 Patienten.
Patienten als Mensch wahr nehmen statt als Nummer
Dennoch: Fühlt sich ein Patient in einer Arztpraxis als Mensch wahrgenommen und nicht als Nummer, können alle nur gewinnen. Jemand, der sich gut aufgehoben fühlt, zeigt mehr Verständnis, wenn er auch mal länger warten muss als geplant. Jemand, der sich rund um gut behandelt fühlt – und nicht nur vom Arzt selbst – empfiehlt die Praxis gern weiter, sorgt also für einen guten Ruf. Und welche Patientenhelferin beflügelt es nicht, wenn ihr freundliches Lächeln erwidert wird? Und wie sehr bestätigt das DANKE von Patienten, dass es sich lohnt, diesen anstrengenden Beruf auszuüben?
Hohes Arbeitspensum und Routine frisst Menschlichkeit
Schade ist, wenn die Tagesroutine die Menschlichkeit auffrisst. Gerade in einer Arztpraxis. Wie z.B. bei einem meiner Workshops für Patientenorientierung, bei dem mir die Mitarbeiterin einer Gastroenterologie-Praxis sagt: „Warum soll ich denn noch beruhigend auf einen Patienten einreden, der eine Magenspiegelung bekommt? Der kriegt doch sowie so gleich eine Spritze und schläft dann.“ Oder meine Erfahrung selbst als Patientin in einer HNO-Praxis, die ich wegen einer beidseitigen Mittelohrentzündung aufsuchen musste. Neben wirklich großen Schmerzen konnte ich so gut wie nichts mehr hören. So bekam ich nicht mit, dass mich die Mitarbeiterin draußen am Empfang mehrfach aufrief. Irgendwann stand sie völlig entrüstet im Wartezimmer vor mir, die Arme in die Seiten gestützt und schimpfte mich vorwurfsvoll an: „Ja, Frau Carlile, hören Sie nicht, dass ich Sie schon seit 2 Minuten aufrufe?“
Denken und fühlen wie ein Patient
Meine Entgegnungen halfen den beiden Mitarbeiterinnen, mal einen Moment inne zu halten und sich in die Lage ihrer Patienten zu versetzen. Ich fragte jene aus der Gastroenterologie, ob sie selbst schon mal hat eine Magenspiegelung hat durchführen lassen. „Nein, aber meine Oma.“ Was wohl der Grund dafür war? „Verdacht auf Magengeschwür. Aber meine Oma hatte Angst, dass es was Schlimmeres als ein gutartiges Magengeschwür ist.“ Und wie sie die letzten Worte sprach, ging ihr selbst schon ein Licht auf, welche Ängste und Nöte die Patienten plagen, die gleich einen Schlauch ins Innere geschoben bekommen. Dass schon ein freundlicher Blick und ein aufmunterndes Lächeln beruhigen können.
In der HNO-Praxis fragte ich die Mitarbeiterin, wie groß der Anteil ihrer Patienten ist, die ein Hör-Problem haben. Schließlich kommen sie in eine Hals-Nasen-OHREN-Praxis. „So 60 %“ sagt sie. Und meine weitere Frage, wie groß wohl die Wahrscheinlichkeit ist, dass ein Schwerhöriger wahrnehmen kann, was ihm aus dem Nebenzimmer vom Empfang aus zugerufen wird, war ihr AHA-Effekt
Raus aus dem Routine-Rad, ab ins HIER und JETZT!
Auch ich ertappe mich hin und wieder dabei, mich im Routine-Rad mitzudrehen. Dabei bin ich mit den Gedanken schon weit im Voraus bei: Was als nächstes? Dann muss ich noch dies oder das und morgen ist unbedingt jenes dran statt mich im Hier und Jetzt auf die zu konzentrieren, die bei mir sind. Kennt sicher jeder von uns, oder? Wie gut, dass ich mich auf meinen Partner, Freunde und Kollegen verlassen kann, die mich dann immer wieder ins Hier und Jetzt zurückholen. Seit meiner Arbeit mit den Arzt-/Patientenhelferinnen habe ich noch viel mehr Hochachtung vor diesem Beruf und auch mich macht es unglaublich zufrieden, wenn ich nach meinen Workshops ein großes DANKE bekomme für meine individuelle Hilfestellung in ihren individuellen Patientensituationen.
Alles Gute und bleiben Sie gesund! Ihre Petra Carlile