Ich habe die Berufswahl für mein Kind übernommen
Die Arbeitskolleginnen Frau Petri und Frau Hofer sitzen nach Feierabend in einem Café und tauschen sich über ihre 16jährigen Kinder aus. „Mein Sohn hat sich überhaupt nicht um eine Lehrstelle gekümmert. Er wusste bis zu den Abschlussprüfungen nicht, was er werden soll. Was denkt er sich, dass er mit 30 immer noch bei uns wohnen wird?“ klagt Frau Petri. „Dem habe ich es aber gezeigt. Ich habe ihm eine Lehrstelle als Mechatroniker besorgt. Gestern haben wir den Lehrvertrag unterschrieben.“ Um das Gesagte zu unterstreichen, haut Frau Petri die Faust auf den Tisch, dass die Cappuccino-Tassen auf den Untertellern klirren. „Du hast das einfach so bestimmt?“, fragt Frau Huber. „Und Dein Tobi hat das mit sich machen lassen? Hat er denn schon mal ein Praktikum in einer Autowerkstatt gemacht?“ „Mechatroniker werden gesucht. Die werden ihm in der Ausbildung schon zeigen, was er lernen muss.“ Trotzig schaufelt Frau Petri noch einen Löffel Zucker in ihre Tasse. „Sag bloß, Eure Ella hat sich ihre Lehrstelle allein gesucht. Oder geht sie auf die FOS wie viele andere aus der Klasse?“
Und? Was willst Du mal werden?
„Hm… anfangs war das auch für Ella schwierig.“, erinnert sich Frau Hofer. „Sie hat ziemlich herum gezickt, wenn immer sie jemand aus der Verwandtschaft gefragt hat, was sie werden will. Kann ja auch ziemlich nerven, diese Fragerei. Als sie in der Achten war, haben wir uns zusammengesetzt und Ideen gesammelt, wie sie selbst für sich herausfinden kann, welcher Beruf zu ihr passt.“
Erzähl mir von Deinem Beruf
„Dann haben wir Ich-dreh-den-Spieß-um erfunden. Immer wenn sie wieder gefragt wurde, was sie einmal werden möchte, hat sie sich darin geübt, nicht herum zu zicken sondern die Fragenden zurück gefragt: „Was machst Du denn beruflich? Warum bist Du das geworden? Mal ehrlich – macht Dir Dein Job Spaß? Was genau macht Dir Spaß? Was nicht? Mein Cousin z.B. leitet die Controlling-Abteilung in einem Unternehmen. Begeistert hat er von seinen Zahlen gesprochen, wie er damit herum jongliert oder wie er tüftelt, wenn es Ungereimtheiten gibt bis er eine Lösung gefunden hat. Durch Ellas Interwies mit Verwandten und Bekannten haben wir viel erfahren über Berufe wie: Landschaftsgärtner, Buchhalter, Medizinische Fachangestellte, Einzelhandelskaufmann, Informatiker usw. Von den Erzählungen meines Cousins war Ella am meisten begeistert. Immerhin ist sie auch gut in Mathe. So bekam sie von ihm das Praktikumsangebot. Und wir dachten schon: prima, wird sie Buchhalterin. Ist Branchen-unabhängig. Wird immer gebraucht. Aber ihr Fazit nach den zwei Wochen: Pupstrocken, Mama! Nie im Leben in die Buchhaltung! Dann schlugen wir ihr ein Praktikum in einem Kindergarten vor. Wo sie doch so gut mit ihrer kleinen Schwester zurechtkommt. Sie ist unglaublich geduldig mit ihr. Nimmt mir viel Arbeit ab damit, weil sie sich um die Kleine kümmert. Also scheint sie auch Freude an der Arbeit mit Kindern zu haben. Dachten wir. Bereits nach einer Woche Ferienjob im Kindergarten war sie total genervt und dann richtig froh, als der Job endlich zu Ende war.“
Zu wissen, was man NICHT werden möchte ist auch wichtig für die Berufswahl
„Na, da habt ihr ja viel mit ihr gemacht und trotzdem war es vergebene Mühe!“ triumphiert die Petri, die schon Gewissensbisse bekam bei dem, was ihre Kollegin alles mit der Tochter unternommen hat. „Sagen wir mal so – Ella hat zumindest gewusst, dass sie weder Buchhalterin noch Kindererzieherin werden möchte.“ Nachdenklich rührt Frau Hofer in ihrem Kaffee. „Das war für uns schon mal besser, als überhaupt nichts zu wissen. Ich war mit ihr dann im Berufsinformationszentrum. Aber sie war völlig erschlagen von dieser Auswahl. 350 Ausbildungsberufe – meine Güte!“
Geduld und Durchhaltevermögen um zu entdecken, was einem liegt
„Im BIZ konnte Ella auch einen Eignungstest machen. So eine Art Stärkenprofil erstellen. Sie wäre die perfekte Bäckerin, kam dabei heraus. Wenn ich mir vorstelle, wir ungern Ella Kuchen backt oder in der Küche Speisen zubereitet und vor allem, wie ungern sie früher aufsteht als unbedingt nötig…“ Frau Hofer schüttelt den Kopf „Kurz gesagt, es war ein Schuss in den Ofen. Voller Frust war Ella tagelang ungenießbar. Ist jedes Mal nach der Schule gleich in ihr Zimmer. Und da hat sie Möbel gerückt und herum gepoltert. Irgendwann schleppte sie einen Eimer Farbe durch die Wohnung und hantierte mit Werkzeug von ihrem Vater herum. Endlich – nach drei Wochen – sprach sie wieder mit uns und fragte nach Berufen, bei denen man Möbel und Räume gestalten kann.“
Frau Petri wirft schnippisch ein: „na, dann mal viel Spaß beim Finanzieren des Innenarchitekturstudiums!“ „Studieren mag sie momentan nicht. Sie wird Raumausstatterin. Aber bevor sie sich eine Ausbildungsstelle gesucht hat, haben wir darauf bestanden, auch hier ein Praktikum zu absolvieren. Ihr Zimmer immer wieder umgestalten – schön und gut. Aber das als Beruf zu machen, ist immer noch was anderes. Wir wollten, dass sie den Beruf in voller Realität kennen lernt.“ „Ja und?“ fragt Frau Petri. „Naja, seit dem freiwilligen Praktikum arbeitet sie schon ein ganzes Jahr lang jeden Freitag nach der Schule und jeden Samstag bei einer Raumausstatterin. Hat ordentlich ihr Taschengeld aufgebessert. Und zufällig genau dort auch den Ausbildungsvertrag unterschrieben.
Fazit: Bemühungen und Dranbleiben haben sich gelohnt
Glaub mir: graue Haare sind mir bei der Odyssee von Ellas Berufsfindung schon gewachsen. Aber letztlich sind wir alle super glücklich. Weil es ihre Entscheidung war. Und weil sie einen Beruf lernt, von dem wir wissen, dass er ihr Freude macht. Und unser Wohnzimmer erkennst Du inzwischen nicht wieder, ich sag’s Dir.“
Beschämt schreibt Frau Petri unterm Tisch eine SMS an ihren Sohn: „Hi Tobi, Lust auf ein Eis? Lass uns noch mal über Deine Lehre reden…“
Auch gerade beschäftigt mit der Berufswahl ihrer Kinder? Gern unterstütze ich Ihren Sohn / Ihre Tochter dabei.
Ihre Petra Carlile