Illustration: Claudia Löffelmann
Oma Berta möchte heute, nach ihrem Oma-Enkel-Kaffee-Treff, noch zu Klara ins Pflegeheim. Weil Emil nichts weiter geplant hat, schlägt er vor, mit der Oma zusammen dorthin zu fahren.
Das Leben bietet die besten Wegweiser
Emil hat gerade seine Bachelor-Prüfung mit Bravour bestanden. Freudestrahlend berichtet er auf der Fahrt darüber „Und?“, fragt Oma Berta. „Was hast Du jetzt vor?“ Emil kaut auf der Unterlippe herum. „Wenn ich das wüsste! Auf jeden Fall möchte ich noch einen Masterabschluss dran hängen. Wirtschaft und Ökonomie liegen mir total. Ich hab nur noch keine Ahnung, in welche Richtung ich schauen soll.“ Berta bemerkt, wie Emil sich unter Druck setzt mit einer Entscheidung. „Bleib neugierig auf alles, was Dir begegnet in nächster Zeit. Egal, was. Das findet sich schon.“ Auf ihre beruhigende Art bringt die Großmutter ihren Enkel dazu, sich zu entspannen und die Gedanken an Studium und Master zur Seite zu legen.
Endstation Pflegeheim
Inzwischen sind sie im Pflegeheim angekommen. Schon im Eingangsbereich nimmt Emil die besondere, sehr beklemmende Atmosphäre wahr. Ein merkwürdiger Geruch umfängt die beiden. Er erinnert ihn an Krankenhaus und abgestandenes Mensa-Essen. Unsicher hangelt sich ein alter Herr mit Trippelschritten im Flur am Handlauf entlang. Er ist so konzentriert darauf, dass er die beiden Besucher gar nicht bemerkt. Sie kommen an einem Aufenthaltsraum vorbei. Dort sitzen Senioren am Tisch oder in Rollstühlen und starren mit leeren Augen in ihre Kaffeetassen. Eine Pflegekraft in Kittelschürze räumt benutztes Geschirr mit Kuchenkrümeln zusammen und stapelt dieses klirrend auf einen doppelstöckigen Wagen, wischt hier mal einen Tisch ab und spricht laut auf einen scheinbar schwerhörigen Heiminsassen ein. „Nein, Herr Kleinschmidt, Käsebrot können Sie erst zum Abendbrot haben. Da müssen Sie schon warten bis 18:00 Uhr.“
Jeder Tag ist gleich
Sonst spielt sich nichts ab. Stille und phlegmatisches vor-sich-hin-Gestarre beherrschen die Atmosphäre im Pflegeheim. „Klara, Geburtstagskind!“ Berta erkennt die Freundin unter den Insassen und steuert auf sie zu. Langsam und mit traurigen Augen blickt Klara auf. „Ach Berta, Du bist das.“ Erst als die beiden Besucher vor ihr stehen, bemerkt Klara, dass Berta heute in Begleitung kommt. Sie setzt sich etwas aufrechter in ihren Rollstuhl. „Na Klara, hattest Du bisher einen schönen Tag? Bestimmt haben die Gratulanten an Deiner Zimmertür Schlange gestanden?“ Klara ist erstaunt. „Was für Gratulanten? Hier gibt es keine Party, niemand weiß wenn jemand anderes Geburtstag hat. Ein Tag wie jeder andere.“ Müde zählt sie den immer gleichen Tagesablauf auf, spricht von verzweifelten Neuankömmlingen, die irgendwann genauso resigniert sind wie alle hier und von solchen, die das Heim für immer verlassen haben.
„ Die Werbebroschüre stellt das Leben im Seniorenheim als neuen Lebensabschnitt dar. Von wegen, es ist die Endstation, das Warten auf den Tod!“ Emil scheint von der Hoffnungslosigkeit eingesaugt zu werden. Berta unterbricht die trübsinnige Stimmung. „Ich habe Dir etwas mitgebracht.“ Klara öffnet das Päckchen, das ihr ihre Freundin hinhält. „Kuriose Geschichten, die das Leben schreibt“, liest Klara den Buchtitel vor. „Oh, dankeschön! Dieses Buch kenne ich noch nicht. Leider habe ich meine Brille im Zimmer liegen.“
Für Emil die Gelegenheit, die graue, entrückte Situation zu durchbrechen. „Wenn Sie mögen, Frau Müller, lese ich gern etwas daraus vor.“ Emil wartet die Antwort gar nicht ab sondern schnappt sich das Buch und beginnt mit den ersten Sätzen.
Schon Vorlesen bringt große Freude
Die erste Kurzgeschichte darin handelt von einem Musiker, der lange Jahre seine Geige in der Ecke verstauben ließ, bevor er mit über 70 zurück zu seiner Virtuosität findet, junge Menschen in seinen Bann zieht und ein ganzes Dorf zum Geige spielen bewegt. Eine beschwingte Geschichte, die selbst Emil mit seinen Anfang 20 berührt und amüsiert. Nicht nur Klara und Berta haben dem jungen Vorleser gelauscht. Viele Blicke im Aufenthaltsraum richten sich auf Emil, einige rollen mit ihrem Rollstuhl näher heran. Erst als er diese Geschichte beendet und aufschaut, bemerkt Emil, dass er im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit steht. „Ne dolle Geschichte!“, ruft ein Mann, der vorher nur die Krümel auf dem Tisch von einer Hand zur anderen gerollt hat. „Ich hab früher mal Gitarre gespielt…“ fügt er noch hinzu. Einige applaudieren vor Begeisterung als hätte Emil diese Geschichte selbst geschrieben. Ein Gespräch in großer Runde entsteht. Viele erzählen, wie Musik für sie früher in bestimmten Lebenssituationen ein willkommener Begleiter war. Der Herr mit der Gitarre ist nicht der einzige, der einmal ein Instrument gespielt hat.
Bis nächste Woche
Nach 3 Stunden brechen Oma Berta und Emil auf. Fröhlich verabschiedet sich Klara von ihnen. „Ihr habts geschafft, dass es am Ende für mich doch noch ein richtig schöner Tag wird. Und nicht nur für mich. Danke!“ Auch die anderen im Aufenthaltsraum des Pflegeheims winken den beiden Besuchern hinterher. Der Gitarrenmann ruft: „Lass Dich mal wieder blicken, Junge!“ Emil grinst. „Mach ich, versprochen!“
Auf dem Rückweg wird Emil nachdenklich. „Oma, dieses Heim ist das Ende. Dabei leben die Menschen doch noch. Jeden Tag. Und was sie erleben ist nichts, worauf man sich freuen kann. Ich finde, das geht so nicht. Ich muss mir was überlegen.“ Berta versteht ihren Enkel. Sie ist froh, dass sie so rüstig ist und noch für sich allein sorgen kann. Anders als Klara, die in einer Warteschleife festhängt. Bis der Tod eines Tages kommt und sie daraus erlöst. „Lass uns morgen zusammen überlegen – was hältst Du davon? Mittagessen im Goldenen Hirsch und danach Gehirn-storming im Park? Ich zahle!“ sagt Oma Berta. Sie hat das Gefühl, als würden sie morgen was ins Rollen bringen. Mal sehen, was genau das sein wird.
Für alle, die ein sinnvolles Ehrenamt suchen – was halten Sie von ‚Senioren Feel Good Macher/in?‘
Ihre Petra Carlile